Dem Leben folgt der Tod

Copyright by Michaela Giuliani
Der Regen prasselte gegen die Windschutzscheibe und die Wischer gingen quietschend ihrem monotonen Intervall hinterher. Dirk konzentrierte sich auf die Straße, die das Licht der Straßenlaternen spiegelten. Das Wetter war trist, aber seine Freude um so fröhlicher.
Endlich war es so weit. Eine Ampel bremste das Vorankommen. Verträumt schaute er jetzt aus dem Auto und erblickte ein Haus, bei deren Fenster die Vorhänge zugezogen waren und man zwei Schatten erkennen konnte. Er überlegte kurz. Genauso musste es bei ihnen ausgesehen haben. Er erinnerte sich an den Tag vor fast zehn Monaten.
„Komm her Schatz“, sagte Laura, die in edlen Dessous auf der Couch lag und ihn lüstern anschaute. Sie verfügte zwar über keine Modelmaße, ungeachtet dessen besaß sie eine gewisse Schönheit. Was eindeutig an ihrer Ausstrahlung hing. Ihre üppige Figur, die schwarzen langen Haare, die hellblauen Augen und alles andere passte schlicht zusammen. Laura war hübsch, aber auf eine Art und Weise, die man nicht direkt zu erklären wusste. Erst wenn man sie kennenlernte, sah man, was sie so attraktiv machte.
„Ja sofort“, sagte Dirk, dem die Lust ins Gesicht geschrieben stand. Er trug eine Boxershorts und man erkannte seinen athletischen Körper, den er dem Sportstudium verdankte. Seine Haare gingen ihm recht früh aus und da hatte er beschlossen, eine Vollglatze zu tragen. Dies weckte die Neugierde vieler Frauen, die ihn aus diesem Grund interessanter fanden. Gerade als Lehrer bekam er eindeutige Angebote von Müttern, die er stets ablehnte. Für ihn gab es nur Laura. „Ich will nur noch schnell die Vorhänge zu ziehen.“
„Wir wohnen im dritten Stock. Wer will uns den da beobachten?“, sagte sie lächelnd.
„Ist doch egal!“
Dirk ging zur Couch und krabbelte von da an auf allen Vieren auf Laura zu. Wie ein Tiger der sich seiner Beute nähert.
„Na welches Tier möchtest du heute“, sagte er scherzend.
Laura lachte herzlich.
„Lass mich mal überlegen?“, sagte sie und legte spielerisch die Hand an ihr Kinn.
Dirk kam bei ihr an und fauchte zum Spaß.
„Ich will einfach nur dich“, sagte Laura und umschlang ihn mit ihren Armen.
Sie verfielen in einen innigen, langen Kuss. Dirk löste sich als Erstes davon. Er streichelte ihr zärtlich durchs Haar. Sie sahen sich tief in die Augen.
„Ich liebe dich.“
„Ich dich auch.“
Gegenseitig liebkosten sie ihre Körper und bald lagen sie nackt nebeneinander. Das Vorspiel steigerte immer mehr die Lust. Als dann Dirk Lauras Körper bis zum Venushügel mit Küssen bedeckte, brodelte in ihr ein Vulkan hoch, der auszubrechen drohte. Trotz allem erweiterten sie die Begierde, indem sie noch nicht zum Akt übergingen. Sie küssten und streichelten sich weiter, bis man die Spannung im Raum regelrecht spüren konnte. An einem Punkt angekommen, an dem beide nicht mehr klar dachten, gaben sie sich der Liebe hin und es war phänomenal.
In dieser unvergleichlichen Liebesnacht zeugten sie ihre Tochter, die jetzt auf dem Weg war, das Licht der Welt zu erblicken.
Die Ampel schaltete auf grün und Dirk gab Gas.
Die Schwangerschaft hatten sie lange geplant. Auf Anhieb klappte es nicht, doch aus irgendeinem Grund wusste er in dieser Nacht, dass es funktioniert hatte.
Ein mulmiges Gefühl kroch ihm durch den Bauch. Bald würde er seine Tochter im Arm halten.
Er bekam den Anruf von Laura, dass die Wehen losgehen. Ohne Umschweife machte er sich auf den Weg. Lauras Mutter hatte sie bereits ins Krankenhaus gebracht.
„Bist du sicher, dass wir das machen sollen?“, hatte er damals zweifelnd gefragt, als Laura ihn damit konfrontierte, ob sie gemeinsam ein Kind möchten.
„Natürlich bin ich mir sicher. Wenn, dann will ich nur ein Kind mit dir zusammen. Wir sind jetzt so lange ein Paar. Ich denke, es ist an der Zeit den nächsten Schritt zu wagen.“
„Das ist ein ganz gewaltiger Schritt“, sagte Dirk überfordert.
„Was schaust du den so? Willst du dies nicht? Bist du dir nicht sicher mit mir?“
„Doch bin ich“, sagte Dirk entrüstet. „Dies ist eine Entscheidung die unser Leben völlig verändert.“
„Ja das wird es“, sagte Laura zart. „Und wenn ich daran denke, dass ein kleiner Dirk herumrennt, dann erfüllt es mich mit Freude. Ich liebe dich und gibt es keinen besseren Beweis dafür gemeinsam ein Kind zu haben?“
Dirk blickte nachdenklich nach unten. Laura strich ihm zartfühlend über die Wange.
„Was meinst du?“, sagte sie.
„Ich hätte aber auch nichts gegen eine kleine Laura“, sagte er und sie fiel ihm um den Hals.
Das Wasser spritze hoch, als Dirk vor dem Krankenhaus durch eine Pfütze fuhr und anhielt. Er achtete gar nicht darauf, ob er dort stehen durfte. Er stieg schleunigst aus dem Auto aus und ging zügig ins Krankenhaus. Er marschierte durch die Pforte und steuerte den Aufzug an. Er wusste genau, wo sich der Kreißsaal befand, schließlich war er noch vor drei Monaten hier, um alles zu besichtigen.
„Unser Haus verfügt über vier Kreißsäle. In einem davon befindet sich eine Wanne für die Mütter, welche sich für eine Wassergeburt entscheiden. Monatlich werden hier etwa zwanzig Säuglinge geboren. Rund um die Uhr sind immer Hebammen vor Ort, so dass sie sich rundum wohlfühlen. Unser Haus legt größten Wert auf ihr Befinden und versucht ihre Wünsche bestmöglich zu erfüllen.“
Behaglich ertrug Dirk alles, umgeben von Schwangeren und deren überforderten Männern, denen dies so fremd war wie ein spanisches Dorf. In Seelenruhe erklärte die Dame, welche sie herumführte, die Instrumente, Stühle und was man halt so im Kreißsaal findet. Dirk hielt die Hand von Laura und mit gewissem Stolz blickte er ihr auf den runden Bauch.
Mit einem Quietschen ging die Aufzugtür auf und Dirk befand sich bei den Kreißsälen.
„Da bist du ja“, sagte seine Schwiegermutter, die ihm entgegen kam.
„Wo ist sie? Ist alles in Ordnung?“
„Sie ist wohlauf. Kreißsaal 2.“
„Danke“, sagte Dirk.
„Keine Ursache. Ich werde mich nach Hause machen. Meld dich.“
„Du bleibst nicht?“
„Das ist ein Moment der euch gehört. Da habe ich nichts zu suchen.“
„Ich rufe an“, sagte Dirk und ging in den Kreißsaal. Das laute Pochen des Wehenschreibers hallte durch den Raum.
Laura lag in einem Entbindungsbett und der Schweiß stand ihr auf der Stirn. Eine Hebamme las in diesem Moment das CTG.
„Ihre Tochter will nicht mehr lange auf sich warten lassen. So wie ich das sehe“, sagte sie zu Laura.
„Hallo Schatz“, sagte Laura und versuchte zu lächeln, aber eine Wehe ließ dies nicht zu. Dirk ging sofort zu ihr und hielt ihre Hand. Sie stöhnte vor Schmerz. Dirk kam sich mit einem Mal völlig hilflos vor. Er konnte nichts machen, außer seiner Frau zu zusprechen. Der Rest der Geburt verlief für Dirk, wie ein Film über den er keine Kontrolle führte.
Erst das Schreien seiner Tochter holte ihn zurück in die Realität. Das Gefühl, das ihn überkam, war unvorstellbar. Mit nichts vergleichbar, was er je erlebt hatte und mit Worten kaum beschreibbar.
Die Hebamme gab sie sofort Laura in den Arm, der Freudentränen liefen.
„Na meine Kleine“, sagte sie geschwächt zu ihrer Tochter.
Das Nabeschnurschneiden hatte sich Dirk einfacher vorgestellt. Es brauchte einen kräftigen Schnitt um sie zu durchtrennen. Anschließend nahm die Hebamme das Baby an sich zum Wiegen und vermessen. Dirk blickte Laura voller Liebe an. Sie erwiderte den Blick mit einem süßen Lächeln und im gleichen Moment verdrehte sie die Augen und sackte zusammen. Wie betäubt stand Dirk daneben. Der Arzt kümmerte sich sofort um Laura und die Schwester bat Dirk nach draußen. Kurz darauf kam die Hebamme hinaus und gab ihm seine Tochter auf den Arm.
„Ist alles in Ordnung?“, wollte Dirk voller Besorgnis wissen.
„Machen sie sich keine Sorgen, schauen sie nach ihrer Tochter. Das wird schon“, sprach sie ihm zu und verschwand wieder im Kreißsaal.
Er blickte auf das Würmchen in seinem Arm und er erkannte Laura in ihm. Die schwarzen dicken Haare konnte sie nur von seiner Mutter haben. Zaghaft öffnete sie die Augen und schaute zu ihm auf. Dann folgte mehrmals ein Schmatzen und sie schloss anschließend müde die Augen wieder. In diesem Moment entstand eine neue Liebe in Dirk. Es brauchte keine Worte, um diese entstehen zu lassen. Der erste Blick zwischen Vater und Tochter reichte aus. Er war Papa. Was für eine Verantwortung sollte noch größer sein? Die kurze Zeit dieses Hochgefühls erlosch, als der Arzt die Tür öffnete und sich mit traurigem Gesicht vor Dirk stellte.
„Es tut mir leid. Wir konnten nichts mehr für sie tun.“
»Aber warum?«, sagte Dirk irritiert. »Sie war doch immer wohl auf?«
»Wir können noch nichts Genaues sagen. Wir vermuten ein Aneurysma im Kopf. Durch die Anstrengung beim Pressen könnte dies geplatzt sein. Aber das werden die Untersuchungen zeigen. Es tut mir wirklich leid.«
Diese Worte trafen Dirk und er wäre direkt zu Boden gegangen, hätte er nicht seine Tochter auf dem Arm gehabt. Er schien in ein Loch zufallen und alles kam ihm unnatürlich vor.
»Kann ich zu ihr?«, fragte er.
»Natürlich.«
Der Arzt hielt ihm die Tür zum Kreißsaal auf und Dirk ging mit seiner Tochter im Arm hinein. Laura lag auf dem Bett und war bis zu den Schultern mit einer Decke zugedeckt. Sie sah aus, als würde sie schlafen. Selig ruhig. Dirk liefen die Tränen. Allmählich begriff er, was geschehen war. Der Anblick zeriss ihm das Herz.
»Hier ist deine Tochter Schatz. Sie sieht aus wie du«, schluchzte er. Bittere Tränen rannen ihm die Wangen hinunter.
Irgendwie hoffte er auf eine Antwort, doch das Einzige, was er hörte, war ein leises Schmatzen. Er war jetzt alleine mit seiner Tochter und so schlimm, wie es war, erkannte er.
Dem Leben folgt der Tod.